Mit Hilfe von 3D-Stadtplänen lassen sich Gefahrenzonen und schwierige Verkehrsknotenpunkte ausmachen.

Mit Hilfe von 3D-Stadtplänen lassen sich Gefahrenzonen und schwierige Verkehrsknotenpunkte ausmachen.

1. Dezember 2022 – Anzeige

Arbeiten mit dem Abbild der Stadt

Auf dem Rad durch die virtuellen Straßen / Digitale Planung für reale Orte (Teil II)

Für die Entwicklung und Planung von Stadtquartieren oder Lebensräumen bieten digitale Werkzeuge enorme Möglichkeiten. Die Universität Stuttgart hat mit Modellstädten untersucht, welche Chancen sich durch die Unterstützung des Höchstleistungsrechenzentrums der Universität bieten. Die Zusammenführung von Daten zum digitalen Zwilling eröffnet den Weg, Szenarien zu erarbeiten und durchzuspielen, bevor die Entscheidung für die Umsetzung in die Realität fällt. So helfen die neuen technischen Werkzeuge, besser vorbereitete Entscheidungen zu treffen.

„Wenn man ihn einmal erlebt hat, dann sieht die Welt ganz anders aus“, berichtet freudestrahlend Herrenbergs Baubürgermeisterin Susanne Schreiber von ihrer Erfahrung mit dem digitalen Zwilling. Andere Städte sind zurückhaltender, aber „wir hatten durch ein Forschungsprojekt eine günstige Ausgangslage“, erzählt sie. Zumal Herrenberg Glück hatte, weil der Grundstein schon vor Corona gelegt war – ohne Pandemie „hätten wir bereits früher am digitalen Zwilling weitergearbeitet.“ Schreiber steht der Technik offen gegenüber, ebenso wie ihr Dezernat und die gesamte Herrenberger Verwaltung.

Sensorik überzieht die Stadt

Ein Tipp, den sie anderen Kommunen gibt: Den Einstieg zur Nutzung des digitalen Zwillings über ein Forschungsprojekt wertet Schreiber „wie einen roten Teppich“. In Herrenberg gibt man gerne Auskunft und führt die bisherigen Ergebnisse seit dem Start 2019 häufig vor. Jetzt ist die Überarbeitung der Altstadtsatzung als Maßnahme im Rahmenkonzept Innenstadt geplant. Hier wird aktuell eruiert, inwieweit der digitale Zwilling bei dieser Maßnahme unterstützen kann. Schrittweise wird Herrenberg mit Sensorik ausgestattet. Mit den Daten lassen sich vielfältige Aufgaben unterstützen. Der Mülleimer meldet, wenn er voll ist – dann lassen sich die Touren effizienter gestalten. Der Gießtrupp wird gerufen, wenn die Blumenkästen Wasser brauchen, oder der Winterdienst erfährt, wo gezielt gestreut werden muss. Die Wetterdaten zeichnen ein viel besseres Bild über das Mikroklima in der Stadt, wo die Temperaturunterschiede teils mehrere Grad Unterschied auf kleinem Raum betragen. Als nächstes soll der digitale Zwilling den Weg zur fußgänger- und radfahrerfreundlichen Stadt unterstützen.
Testpersonen sollen mit Sensoren ausgestattet werden, um ihr emotionales Stresslevel zu erfassen. Dann können fundierte Argumente anstelle von subjektiven Eindrücken ausgetauscht werden. Der digitale Zwilling unterstützt die Bürgerbeteiligung zentral, denn Oberbürgermeister Thomas Sprißler hat Herrenberg zur Mitmachstadt geformt.

In der CAVE erleben Besucher die virtuelle Stadt Herrenberg.

In der CAVE erleben Besucher die virtuelle Stadt Herrenberg.

Zahl der 3D-Modelle wächst

Von Berlin bis Tokio und von Lübeck bis Augsburg: Dreidimensionale Modelle von Regionen und Städten haben Eingang in die Planung gefunden. Die Ausbreitung von Lärm und Abgas lässt sich simulieren, ebenso die Veränderung des Stadtklimas. Die Kosten für die Nutzung eines digitalen Zwillings zur Stadt- und Quartierplanung sind schwer zu schätzen, aber wenn man Peter Zeile fragt, dann fällt die Antwort aus Sicht der Wissenschaft eindeutig aus: „Ich rate es allen.“ Der Senior Researcher am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) Ratschlag rennt offene Türen ein. Die Zahl der 3D-Stadtmodelle ist auch virtuell bereits stattlich gewachsen.
Fast in jeder Stadt wird irgendwo eines eingesetzt, „allerdings ist die Tatsache oft gar nicht bekannt“, vermutet Zeile. Wichtig sei, dass die Umsetzung top-down erfolge. Anlaufstellen für Unterstützung gibt es ebenfalls etliche: beim KIT, HLRS, bei Ingenieurbüros, den Geodatenmanagern oder bei Lehrstellen für kommunale Entwicklung. Beginnen kann man mit einem Grundmodell als Geo-Referenz, das später angereichert wird. So lassen sich Gebäudegrundrisse oder Straßenführung virtuell erstellen. Anschließend wird geprüft, ob diese Daten eventuell schon ausreichen oder ob mehr benötigt wird.
Das Zusammenspiel der Ämter sollte ebenfalls in den Blick genommen werden. Denn Mitspieler sind die interne Verwaltung, der politische Wille und die Beratung zum Modell. Externe Dienstleister sorgen für die Grundlage. „Dann geht es verhältnismäßig schnell“, berichtet Zeile aus der Erfahrung. Mit kleinen Änderungen können bereits große Effekte erzielt werden, wie das Karlsruher Projekt „Alter Schlachthof“ unterstreicht.
Das Quartier klagte bereits vor Jahren über extremen Hitzestress. Mit Hilfe weniger Maßnahmen ist ein Konzept für thermische Verträglichkeit entstanden, die auf wenigen und kostengünstigen Maßnahmen beruht: Bäume, Verschattung der Gebäude, Fassadenfarbe und Dachbegrünung. Grundlage dafür war die virtuelle Planung, die Auskunft über die Wirkung der Maßnahmen im ganzheitlichen System gab. „Punktuelle Maßnahmen können viel bewirken“, lautet Zeiles Fazit. Die Rechenleistung ist aktuell selten das Problem, um Auskunft über Hitze, Verkehr oder Energie für die weitere Planung zu erhalten. Drohnenflüge helfen jetzt ergänzend, die virtuelle Stadt vorzubereiten: „Das ist günstiger und macht mehr Spaß“, so der Forscher.

Vom Fahrrad bis zum Rollstuhl

Ein weiterer Aspekt für die Quartiersplanung ergibt sich mit dem Blick auf die verschiedenen Rollen, die Menschen dort einnehmen. Zu Fuß, mit dem Rad oder Auto sind sie unterwegs und haben dementsprechend unterschiedliche Befindlichkeiten und Bedürfnisse. „Alle Menschen sollen Radfahren dürfen“, fordert Johanna Drescher. Die Referentin Verband im ADFC sieht als großen Hinderungsgrund den Faktor subjektive Sicherheit. Konflikte und Unfälle führen zu starker Unsicherheit, die es bei der Planung schon zu berücksichtigen gilt. „Verkehrsplanung braucht Instrumente, mit denen man erfassen kann, wo man sich zu nahe kommt“, weiß sie. Im digitalen Zwilling eröffnen sich Chancen, solch eine Problematik im Vorfeld zu erfassen und bei der Umsetzung zu berücksichtigen.

Das Forschungsprojekt CapeReviso entwickelt Werkzeuge für die Verkehrsplanung in der Stadt, um mit Simulationen die Entscheidungsgrundlage zu verbessern. „Es handelt sich um ein aufwändiges Projekt“, berichtet Drescher. Aktuell fließt noch viel Energie in die Grundlagenforschung. Dabei unterstützt auch die automatisierte Erfassung der Verkehrssituation die Vorbereitung und Sammlung der Daten, um den digitalen Zwilling zu füttern.

„Sehr beeindruckend“ findet Drescher den Rad-Simulator am Stuttgarter Höchstleistungsrechenzentrum. Darin konnte sie bereits über den virtuellen Stuttgarter Marienplatz radeln und im Zusammenspiel mit anderen Verkehrsteilnehmern Erfahrungen sammeln.

Auch im Rollstuhl- und Skateboardsimulator können Verkehrsplanungen virtuell getestet werden. Damit lässt sich beispielsweise kontrollieren, ob die gewählte Maßnahme die erwünschten Effekte erbringen würde. „Damit lassen sich Situationen erfassen, in denen besonders viel Stress zwischen Verkehrsteilnehmern herrscht“, ergänzt die ADFC-Referentin.
Die Kommunen „zeigen große Offenheit und großes Interesse“ an dem Projekt und der virtuellen Realität, hat Drescher bereits erfahren. Denn die Ansprüche an die Infrastruktur wachsen Und für die Kommunen stellt sich häufig die Frage, wo anfangen. Um gleich die Bürger von Anfang an einzubinden, empfiehlt Drescher das ADFC-Projekt Mapathon. Hierbei können niederschwellig Radwegnetze ausgerichtet an den lokalen Bedürfnissen skizziert werden. Gleichzeitig lassen sich verschiedene Maßnahmen für eine bessere Radinfrastruktur auch schnell und ohne großen bürokratischen Aufwand umsetzen, wie Beispiele aus Berlin, Sevilla, Utrecht und sogar den USA zeigen. [ dlu ]

ADFC-Probandinnen im Einsatz bei Abstands- und Stressmessungen

ADFC-Probandinnen im Einsatz bei Abstands- und Stressmessungen


Dr.-Ing. Peter Zeile – Senior Researcher, Urban Emotions

Englerstraße 11
76131 Karlsruhe

Tel. +49 721 608-42181
E-Mail. peter.zeile@kit.edu

17. April 2024


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