Willkommenskultur statt Ausgrenzung und Mobbing
Auch 2022 entstand eine weltpolitische Situation, die zu einem plötzlichen und unerwarteten Flüchtlingsstrom führte.
2015 ging als Jahr des enormen Flüchtlingsstroms in die europäische Geschichte ein. Dann beruhigte sich langsam die Situation. Mit der Pandemie rückte die Flüchtlingsfrage schließlich völlig in den Hintergrund, aber mit dem Ukraine-Krieg tauchte sie erneut auf.
Einerseits zeigte sie, dass Deutschland immer noch die Willkommenskultur pflegt, als zahlreiche Frauen und Kinder aus der Ukraine in Deutschland problemlos unterkommen konnten. Andererseits entstanden schon nach wenigen Wochen enormer Hilfsbereitschaft erste Ermüdungserscheinungen.
Manche Kommunen waren überfordert und mussten von Anfang an auf die Einsatzbereitschaft von privaten Helfern zählen. Es fehlte an Wohnraum, teilweise sogar an Lebensmitteln. Zahlreichen Privatleuten, die Wohnraum zur Verfügung gestellt hatten, wurde die andauernde Belastung schlichtweg zu viel.
In mehreren Zeitungsartikeln äußerten sich frustrierte Gastgeber, wie beispielsweise Thomas Fuß in der Zeitung „Merkur“ vom 1. Juni. Thomas Fuß fühlte sich von den zuständigen Behörden im Stich gelassen und litt von Tag zu Tag mehr unter den Gästen aus der Ukraine. Er war einer von vielen. Mehr und mehr Privatleute halten sich inzwischen mit ihrer Hilfsbereitschaft zurück.
Der Begriff „Willkommenskultur“
Der Ausdruck „Willkommenskultur“ ist noch sehr jung und wurde zum ersten Mal 2011 in den Migrationsberichten der Bundesregierung benutzt. Die Frage ist: Was versteht man eigentlich unter diesem Begriff? Wie viele Lebensbereiche umspannt das kleine Wort „Willkommenskultur“?
Der Historiker Professor Klaus Jürgen Bade unterrichtet im Bereich Kultur- und Geowissenschaften an der Universität Osnabrück. Zu seinen Schwerpunkten gehört die gegenwartsbezogene Migrationsforschung.
Er erkennt in der Willkommenskultur einen Spurwechsel im politischen und öffentlichen Diskurs. So meint er unter anderem, dass es nicht ausreicht, die Mentalität durch freundliche Umgangsformen allein ändern zu wollen. Deshalb helfe Willkommenskultur wenig gegen angstgeborene Abwehrhaltung gegen Zuwanderer. Man benötige auch Programme und sozialtechnologische Konzepte im Vorfeld.
Diese Konzepte scheinen streckenweise noch zu fehlen, denn die Belastung für die Kommunen wurde 2022 größer als befürchtet. Dabei liegt gerade bei den Kommunen, Landkreisen und kreisfreien Städten die Hauptverantwortung für eine gelungene Integration. Sie sind einerseits rein juristisch von der Entscheidung der Länder abhängig, wenn es etwa um die Anzahl der aufgenommen Geflüchteten geht.
Andererseits verlagert sich nach der Aufnahme durch das Land der Schwerpunkt der Aufgaben auf die Kommunen. Im Alltag sind die Kommunen für die Unterbringung, die Betreuung und die Integration verantwortlich. Sprachkurse müssen angeboten, Schulplätze und ärztliche Betreuung organisiert werden. Die Unterkünfte sollten so liegen, dass öffentliche Verkehrsmittel leicht erreichbar sind.
Langfristig muss es für die Geflüchteten auch ausreichend Arbeitsplätze geben. Dabei sollte – so eine Reihe von Fachleuten – eine Konzentration von Geflüchteten in bestimmten Stadtteilen vermieden werden, auch wenn es oft unvermeidbar ist. Gleichzeitig sollen sich die Geflüchteten aufgenommen und willkommen fühlen, ohne dass sich die Einheimischen benachteiligt fühlen und so ein Nährboden für Ausländerfeindlichkeit und Rassismus entstehen könnte.
Die Herausforderungen sind also äußerst vielfältig und vielschichtig und betreffen fast alle Bereiche einer Stadt oder Kommune.
Die „Plötzlichkeit“ als Problem
Klaus-Peter Schöppner ist seit 2014 Geschäftsführer des Beratungs- und Meinungsforschungsinstituts „Mentefactum“, das auf Basis globalen Wissens auch auf kommunaler und lokaler Ebene aktuelle Fragen und Probleme löst oder gezielt nach Antworten sucht.
Klaus-Peter Schöppner ist außerdem vielen Lesern als Autor bekannt, da er für rund 50 Tageszeitungen und Magazine regelmäßig schreibt. Zudem ist er ein gern gesehener Gast in Talkshows.
Herr Schöppner, wo sehen Sie das größte Problem für Kommunen?
Schöppner: In der ‚Plötzlichkeit‘: Von einem Tag auf den anderen trifft die Flüchtlingsflut auf wieder einmal unvorbereitete Kommunen. Unterbringung, Kosten, Hilfen, Unterstützungen: Wenig ist geregelt, obwohl man von 2015 etwas hätte lernen können. Zudem bereitet uns die Integration aus dem vorderasiatischen Raum noch genügend, manchmal sogar wachsende Probleme. Und jetzt auch noch die Finanz- und Inflationsherausforderungen, wodurch die unteren Schichten mit Recht mehr ‚Inländerfreundlichkeit‘ einklagen.
Wie macht sich das Mobbing von Geflüchteten bemerkbar?
Das ist im Moment nicht das Problem, da die Typologie der Ukraine-Geflüchteten eine andere als die der Syrer ist. Es gibt da kaum mentale Differenzen: Frauen, Kinder und vor allem Leute, die oftmals selbst mitanpacken und helfen wollen und offenbar ‚dankbar‘ sind. Mobbing geschieht da, wo Wohnung und soziale Basis durch vermutete Verdrängung infrage gestellt werden. Übrigens oftmals von vormals selbst Geflüchteten.
Was könnten Kommunen besser machen?
Kommunen müssen den großen Unterstützungswillen weiter Bevölkerungskreise hochhalten. Das geschieht dadurch, Integrationshilfe für die bürgerlich Engagierten zu schaffen, nicht nur finanziell, auch mental. Zudem müssen sie gleichzeitig auf die Probleme der hier Bedürftigen eingehen. Für jeden Euro Flüchtlingshilfe benötigen wir einen Euro ‚Inländerhilfe‘.
Gibt es kommunale Ansätze, die Sie besonders hervorheben möchten?
Die Flüchtlinge benötigen Wohnungs-, Integrations- und Bildungshilfen. Wenn eine Kommune es schafft, Parallelhilfen zu organisieren: Lehrer unterstützen Lehrer aus der Ukraine, Aufbau und Unterstützung integrativer Partnerschaften durch Sportvereine, Kulturverbände und ähnliches, dann ist viel gewonnen. Also inhaltsadäquate Partnerschaften.
Gibt es frühere Fehler, aus denen Kommunen für die Zukunft lernen können?
Bürgerhilfe als selbstverständlich zu nehmen, das geht nur eine geraume Zeit gut. Erste Verantwortlichkeit haben die Kommunen, diese müssen vorangehen. Oftmals ducken sie sich aber weg und verlassen sich zu stark auf bürgerliche Hilfe. Dann wird es kritisch. Und: Manchmal werden Ruhe, Ordnung, Werte und Gerechtigkeitsempfinden verletzt. Hier sollte es in Zukunft deutlich weniger Toleranz durch die Kommunen geben.
Das Interview führte Ingrid Raagaard.