Bürgerräte: der Reiz der Mitbestimmung
Wie die Bodenseemetropole Konstanz erfolgreich neue Wege der Bürgerbeteiligung geht

In Konstanz am Bodensee dürfen nach dem Losverfahren bestellte Bürgerräte jedes Jahr über eine große Haushaltssumme entscheiden. Das vor sechs Jahren eingeführte „Gremium“ bezeichnet Martin Schröpel, neben anderen Aufgaben Beauftragter für Bürgerbeteiligung und bürgerschaftliches Engagement, als großen Erfolg. Er erlebt die Bürgerräte in seiner Kommune als ernsthaft, klug, ausgewogen und eher sparsam als verschwenderisch.
In Ihrer Kommune dürfen sogenannte Bürgerräte über ein Budget von 100.000 Euro bestimmen. Wie läuft das ab?
Seit 2019 können sich bei uns Vereine, Initiativen und andere Gruppierungen jedes Jahr bis Juli mit einem konkreten Projekt um eine Förderung von maximal 15.000 Euro pro Projekt bewerben. Insgesamt stehen 100.000 Euro zur Verfügung. Im Herbst entscheidet ein Gremium von 20 Männern und Frauen, ein BürgerInnenrat, welche Projekte den Zuschlag erhalten.
Wie werden die Bürgerräte ausgewählt?
Die Männer und Frauen werden anhand von Clustern aus dem Einwohnermeldeamt ausgewählt. Aus 200 Adressen suchen wir paritätisch Männer, Frauen, unter 30-Jährige, über 30-Jährige sowie Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft. Die ausgewählten Bürgerinnen und Bürger erhalten dann per Post eine Einladung von unserem Oberbürgermeister. Das Interesse an der Teilnahme am BürgerInnenrat ist ausgesprochen hoch. Es war noch nie ein Problem, die 20 BürgerInnen für den BürgerInnenrat zu finden. Nur manchmal ist eine zweite Einladungsrunde erforderlich um ein bestimmtes Cluster zu füllen.
Wie geht es danach weiter?
Der BürgerInnenrat trifft sich und die Projektinitiatoren und -initiatorinnen stellen ihre Projekte kurz vor. Manchmal mit einem Bericht, manchmal per Video. Etwa 50 Prozent der Projekte erreichen schon in der ersten Diskussion ein einstimmiges Votum, weil sie für sich selbst sprechen. Andere gehen in die zweite Runde und werden dort weiter diskutiert. Wenn das Geld vollständig vergeben ist, dann müssen alle weiteren Projekte für die aktuelle Runde abgelehnt werden. Es werden aber durchaus auch Projekte abgelehnt, weil sie die Kriterien für eine Förderung aus Sicht der Bürgerinnen und Bürger nicht erfüllen.

Der Konstanzer Oberbürgermeister Uli Burchardt verfolgt die Diskussionen nicht?
Niemand von den Hauptamtlichen aus dem Rathaus beeinflusst die Diskussionen oder die Entscheidungen. Bei den Sitzungen ist nur eine Kollegin aus dem Hauptamt dabei. Sie fungiert aber nur als Gastgeberin, erklärt die Kriterien für die Projektauswahl und beantwortet grundsätzliche Fragen zum Procedere. Ansonsten gilt für sie: schweigend zuhören.
Gibt es Vorgaben aus dem Rathaus für die Projektauswahl?
Die gibt es: Die Projekte müssen dem Gemeinwohl dienen, den Gemeinsinn in der Bürgerschaft fördern, den Klimaschutz und die Biodiversität voranbringen und – ganz wichtig – durch Eigenleistung der Bürgerinnen und Bürger realisiert werden. Der städtische Beitrag besteht aus den entsprechenden Rahmenbedingungen und Geldern für benötigte Materialien. Letzteres ist uns wichtig, weil das den Bedingungen einer ko-produktiven Stadt entspricht, die wir sein möchten. Einfach die Hand aufhalten und die Kommune machen lassen, das ist nicht der Sinn und Zweck dieser Teilhabemöglichkeit.
Welche Projekte liegen den Bürgerinnen und Bürgern ganz besonders am Herzen?
Soziale Projekte, solche, die Kinder in den Fokus nehmen, und Umweltschutzmaßnahmen.
Welche Überraschungen haben Sie schon erlebt?
Oh, einige. Manches, das auf diesem Weg möglich wurde, hätten wir als Stadt ganz gewiss nicht umgesetzt. Zum Beispiel rollbare Parkbänke als Begegnungs- und Gesprächsangebot oder von Studentinnen und Studenten eines Vereins vorgeschlagene Spender für Sonnencreme an unseren Bodensee-Promenaden. Kam aber beides gut an. Was ebenfalls immer gut gefällt: Stadtfeste, Veranstaltungen, Schulgärten und naturpädagogische Projekte.
Expertinnen oder Experten kommen nicht zum Zug?
Bei den Projekten, über die die Bürgerräte bestimmen, nicht. Wir haben das mal bei einem klimarelevanten Projekt als Kommune gemacht, aber das war herausfordernd, weil die Fachleute so wahnsinnig fachlich waren. Uns reicht der gesunde Menschenverstand unserer Bürgerinnen und Bürger. Und die machen das echt gut! Unsere BürgerInnenräte sind eher sparsam als freigiebig, da wird kein Geld zum Fenster herausgejubelt. Und die meisten argumentieren sehr klug und sind durchaus ausgewogen in ihren Urteilen.
Hat die Verwaltung auch schon mal ein Veto einlegen müssen?
Nur ein einziges Mal und danach haben wir auch die Richtlinien, unsere Spielregeln, verändert. Eine Gruppierung, heute ist das ein Verein, wollte der kommunalen Verwaltung einen ständigen BürgerInnenrat an die Seite stellen. Dieses Projekt haben wir empfohlen abzulehnen. Grundsätzlich sind wir in Konstanz offen dafür, politische Prozesse zu hinterfragen. Auch gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern. Aber nicht, indem wir ein solches Gremium dauerhaft einführen, das wäre eine ganz andere Dimension. Mittlerweile haben wir gemeinsam mit diesem Verein ein in diese Richtung gehendes Konzept erstellt und erste Erprobungsrichtlinien festgelegt. Meines Wissens sind wir die einzige Kommune in Deutschland, die so etwas bisher gemacht hat. Und die Idee dazu kam … aus der Bürgerschaft.

Wo und wann gerät das Konzept Bürgerräte auch an seine Grenzen?
Grenzen gibt es, natürlich. In den Sitzungen der BürgerInnenräte nehmen wir zur Kenntnis, dass die Bandbreite in Bezug auf Intellektualität, Bildungshintergrund sowie rhetorisches und sprachliches Vermögen schon sehr, sehr groß ist. Da merkt beispielsweise auch schon mal jemand älteres an, dass die eher jungen Akademikerinnen und Akademiker einfach zu schnell reden und zu schnell denken. Da kommen dann ganz schnell einige nicht mehr mit. Wenn die Sitzungen länger dauern, dann laufen diese Teilnehmerinnen und Teilnehmer schnell Gefahr, sich der Meinung der rhetorisch und akademisch gewandteren Teilnehmerinnen und Teilnehmer anzupassen. In solchen Momenten ist die neutrale Moderation dafür da, auch diese Menschen zu Wort und zu ihrem Recht kommen zu lassen.
Lernen gehört also für alle Beteiligten dazu?
Auf jeden Fall. Grundsätzlich finden wir es alle gut, auch die Hauptamtlichen aus dem Rathaus, dass sich in den BürgerInnenräten so viele unterschiedliche Menschen aus unterschiedlichen Milieus zusammenfinden, gemeinsam beratschlagen und gemeinsam für Konstanz entscheiden.
Welche Rolle spielen Mitbestimmung und Bürgerbeteiligung in Konstanz generell?
Eine ganz große. Allerdings gestalten sich die offenen Formate ganz anders. Wenn alle Bürgerinnen und Bürger eingeladen sind, dann entscheidet sich ja schon anhand des Themas, welche Gruppierungen überrepräsentiert und welche vielleicht gar nicht zugegen sind. Da selektiert sich die Bürgerschaft von ganz alleine. Das um repräsentative Ausgewogenheit bemühte Format des BürgerInnenrats stellt dagegen sicher, dass alle Milieus so weit wie möglich eingebunden sind. Das macht den Reiz dieses Formats aus.
Inwieweit scheint eine solche Form der demokratischen Mitbestimmung geeignet, der Politikverdrossenheit in der Gesellschaft etwas entgegenzusetzen?
Ich finde, das trägt durchaus seinen Teil dazu bei, hier entgegenzuwirken. Solche Formen der Mini-Demokratie, die gibt es ja auch in Vereinen, zeigen den Menschen: Wir können ja doch etwas bewirken, zumindest auf kommunaler Ebene. Frust entsteht eher bei den Beteiligungsprozessen auf den unterschiedlichen Planungsebenen kommunalen Handelns. Da wissen die Bürgerinnen und Bürger häufig nicht, woran sie gerade sind, und an welchem Punkt im Planungsprozess die Kommune eigentlich steht. Besonders dann, wenn kaum Spielräume vorhanden sind, die Aufträge an die Bürgerinnen und Bürger nicht klar formuliert und vermittelt sind oder die nun mal vorhandene Unkalkulierbarkeit von politischen Prozessen für die beteiligten Bürgerinnen und Bürger nicht nachvollziehbar ist.
Das Interview führte Annette Lübbers [ al ]

Für Rückfragen und weitere Informationen:
Martin Schröpel, Beauftragter für Bürgerbeteiligung und bürgerschaftliches Engagement: martin.schroepel@konstanz.de
Stadt Konstanz / Rathaus
Kanzleistraße 15
78459 Konstanz
