Erst der Kulturschock, dann die Bereicherung
Syrische Praktikanten arbeiten im Rathaus – da lernen beide Seiten / Schwäbisch Hall ist in zweiter Runde dabei

Seit 2018 unterstützt die Servicestelle Kommunen in der Einen Welt (SKEW) von Engagement Global deutsche Kommunen bei der Qualifizierung von syrischen Geflüchteten in der Kommunalverwaltung. Ein Jahr lang haben 25 syrische Praktikanten den Verwaltungsalltag sieben deutscher Städte, Landkreise und Gemeinden kennengelernt. 2020 startet das Projekt in eine neue Phase – mit Schwäbisch Hall ist wieder eine Kommune aus Süddeutschland dabei.
Der Anfang war für beide Seiten schwierig. Die Mitarbeitenden in den Verwaltungen wussten nicht recht, was auf sie zukommt, denn solche Praktikanten hatten sie noch nie. Auch für die Syrer war alles neu: die Sprache, die Umgangsformen und die Abläufe. Für Samie Morad, einen 30-jährigen Anwalt aus Damaskus, waren die ersten Tage in der Krefelder Stadtverwaltung "ein Kulturschock". Bayan Almarashli, 22, ging es ähnlich, als sie in Maintal ihr Praktikum begann. Anfangs war sie unsicher, wie der Kollegenkreis in der Verwaltung auf sie reagieren würde. Nach ein paar Tagen jedoch ließ ihre Anspannung nach, denn "alle waren hilfsbereit und haben mir geduldig meine Fragen beantwortet".
Almarashli und Morad sind zwei von bundesweit 25 syrischen Praktikanten, die im Rahmen der Initiative "Kommunales Know-how für Nahost" der SKEW in den Jahren 2018 und 2019 die Arbeitsweise, Aufgaben und Strukturen einer Kommunalverwaltung kennenlernen konnten. Ziel des Projektes, das im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) durchgeführt wird, ist die Vermittlung von Kenntnissen, die zukünftig für einen Wiederaufbau kommunaler Strukturen in Syrien relevant werden können. An der ersten Projektphase beteiligten sich der Landkreis Donau-Ries, die Gemeinde Beverstedt, die Städte Darmstadt, Krefeld und Maintal sowie die Landkreise Gießen und Hameln-Pyrmont.

Hochqualifizierte Praktikanten
Auf die Praktikumsplätze hatten sich Syrer im Alter von 18 bis über 50 Jahren beworben. Viele brachten aus Syrien ein Studium in Fächern wie Ingenieurswesen, Architektur, Wirtschaft, Psychologie und Pädagogik mit, einige von ihnen auch langjährige Berufserfahrung. In den Verwaltungen lernten sie verschiedene Abteilungen kennen, vom Büro der Gremien über die Hauptverwaltung, das Bau- und Umweltamt, die Abteilungen Soziales, Ordnungswesen oder Liegenschaften bis hin zu den Stabsstellen der Gleichstellungs- oder Integrationsbeauftragten. Die unterschiedlichen Stationen ermöglichten ihnen einen Einblick in die ganze Bandbreite des Verwaltungshandelns.
Gleichzeitig bot das Praktikum auch eine Einführung in die Grundlagen der Demokratie. Der 23-jährige Hane Moshmosh war beeindruckt, als er 2018 bei der Vorbereitung der bayerischen Bezirks- und Landtagswahl mithelfen konnte. So erhielt er eine Vorstellung davon, wie demokratische Wahlen auf lokaler Ebene funktionieren können.
Auch Ahmed Al Hamoud, 28, war begeistert zu erleben, wie im Maintaler Büro der Gremien demokratische Prozesse organisiert werden, wie die Stadtverordnetenversammlung diskutiert wofür städtische Gelder ausgegeben werden und dass Meinungen auch mal kontrovers sind. "Solche Diskussionen gibt es in Syrien nicht. Bei uns haben die Menschen Angst, ihre Meinung frei zu äußern."

Vielfältige positive Wirkungen
Einige der Syrer haben im Anschluss an das Praktikum eine Ausbildung oder reguläre Arbeitsstelle in der Verwaltung angetreten. Doch nicht nur die Geflüchteten haben vom Projekt profitiert: Im direkten menschlichen Kontakt ließen sich Vorbehalte am besten abbauen, meint Tagrid Yousef, Integrationsbeauftragte der Stadt Krefeld. Bei den informellen Gesprächen in der Kaffee- oder Mittagspause über den Lebensalltag der Geflüchteten, ihre Flucht nach Deutschland oder über die Lage in Syrien sei bei den Mitarbeitenden ein besseres Verständnis für die aktuelle Situation entstanden, meint auch Karl-Heinz Köster, Koordinator für kommunale Entwicklungspolitik im Landkreis Donau-Ries.
Auch die baden-württembergische Stadt Schwäbisch Hall sieht Chancen im Projekt und hat sich 2020 für die Teilnahme beworben. „Für eine stabile Gesellschaft sind funktionierende Kommunalverwaltungen unerlässlich. Wenn wir einen Beitrag zum Aufbau von Syrien leisten und gleichzeitig Menschen eine Perspektive bieten können, nehmen wir die Herausforderung gerne an”, so Oberbürgermeister Hermann-Josef Pelgrim. Die Stadt verfügt bereits über Erfahrungen mit dem Austausch von kommunalem Know-how, auch international: Die Partnerschaften mit Zamosc/Polen sowie mit Okahandja/Namibia beschäftigen sich mit kommunalem Klima- und Umweltschutz. Mit der türkischen Partnerstadt Karesi gibt es einen Austausch zu Müllvermeidung und Mülltrennung. Auch die dort gewonnenen Erfahrungen werden in die Praktika der syrischen Geflüchteten einfließen.

Investition in ein Syrien von morgen
Irgendwann soll das vermittelte kommunale Know-how auch der Gestaltung von Kommunen in einem friedlichen Syrien zugutekommen. "Wir wissen nicht, wann und wie sich die politische Situation in Syrien ändern wird", sagt Projektleiterin Jennifer Ichikawa von der SKEW. „Aber das Projekt ist eine Investition in die Zukunft.“
Auch die Praktikanten sind angetan von der Perspektive, mit ihrer Qualifikation später einmal mithelfen zu können, in ihrem Herkunftsland kommunale Strukturen zu gestalten – auch wenn der Zeitpunkt dafür aufgrund der politischen Lage in Syrien noch in weiter Ferne liegt.

Weitere Informationen:
Engagement Global gGmbH – Servicestelle Kommunen in der Einen Welt
Projektleitung: Jennifer Ichikawa, Tel.: +49 228-20717-348

Engagement Global gGmbH
Friedrich-Ebert-Allee 40
53113 Bonn
Telefon: +49 228 20 717-0
Email 1: info@engagement-global.de
Email 2: info@service-eine-welt.de
Webseite: http://www.engagement-global.de