Das Ulmer Münster und die Wildpinkler
Ein stinkendes Problem, das auch die Bausubstanz wertvoller Gebäude zerstört
Ulm – Es ist eine Geschichte, die zum Himmel stinkt und Ulm zu zweifelhaftem Ruhm verholfen hat. Der mit seinen 161,3 Metern höchste Kirchturm der Welt ist trotz seiner imposanten Größe außerhalb Europas nur selten in der Zeitung – nun schaffte er es sogar in die Washington Post. Der Grund: Das Münster wird von Wildpinklern beschädigt. Die Bausubstanz leidet, weil der scharfe Urin durch das Gemäuer dringt.
Pfarrerin Tabea Frey sagte im Frühjahr 2016 gegenüber dem Domradio: „Die untersten Steine im Sockel sind vom Urin inzwischen völlig zerfressen.“
Diese Horrorgeschichte faszinierte die Presse dermaßen, dass darüber weltweit in zahlreichen Zeitungen zu lesen war. Über Wildpinkler rümpft man überall die Nase, jeder kann das Problem nachvollziehen. Trotzdem hatte bisher kaum jemand vermutet, dass alte dicke Steine dadurch regelrecht zerfressen werden könnten.
Imposantes Bauwerk
Das Ulmer Münster ist die größte protestantische Kirche weltweit. Der Bau begann noch vor der Reformation 1377, wurde aber erst im 19. Jahrhundert beendet. Ein solches Jahrtausendwerk muss natürlich ständig gehegt und gepflegt werden. Die Kirche gehört seit 1894 der Evangelischen Gesamtkirchengemeinde, in deren Auftrag das Münsterbauamt für laufende Restaurierungen und Gebäudepflegemaßnahmen sorgt. Steinmetze sind ständig mit dem Austausch von Steinen, mit der Steinreinigung und mit der Restaurierung beschäftigt. Das Ulmer Münster ist inzwischen sogar ein begehrter Ausbildungsplatz für Steinmetze. Es ist allerdings mehr als frustrierend, wenn oben immer wieder verbessert, gepflegt und erneuert wird, während auf Bodenhöhe simpler Urin das gesamte Bauwerk bedroht, da der Urin zerstörerische Salze und Säuren enthält. Im Frühjahr 2016 beschloss die Stadt Ulm deshalb, den Einsatz gegen die Wildpinkler massiv zu verstärken.
Was hilft gegen Wildpinkler?
Als erstes wurde das Bußgeld von 50 auf 100 Euro erhöht. Im besonders schweren Fällen können sogar bis zu 5000 Euro Bußgelder erhoben werden. Ulm liegt im Bußgeld-Ranking der Bundesrepublik inzwischen ganz weit oben. Gebracht hat es kaum was. Wer muss, der muss und denkt über die Kosten erst gar nicht lange nach. Vor allem dann, wenn Alkohol im Spiel ist, setzt der Verstand bekanntlich zeitweise aus.
Münsterbaumeister Michael Hilbert gab sich im Herbst gegenüber der „Augsburger Allgemeinen Zeitung“ deshalb frustriert. Ein halbes Jahr war seit der Bußgelderhöhung vergangen. Die Menge an Urin war die gleiche geblieben. „Ich habe es im letzten halben Jahr beobachtet. Es ist wieder alles vollgepinkelt.“
Diese Beobachtung wurde auch vom Ordnungsamt bestätigt. Die Zahl der beim Pinkeln ertappten Sünder blieb trotz Bußgelderhöhung unverändert. Der Münsterbaumeister Michael Hilbert forderte deshalb in der „Augsburger Allgemeinen Zeitung“, dass die Überwachungsmaßnahmen verstärkt werden. Das Ordnungsamt solle mehr Personal abstellen. Außerdem müssten alle Veranstalter dazu verpflichtet werden, kostenfreie Toiletten aufzustellen.
Das Ordnungsamt hat inzwischen versichert, dass all diesen Forderungen nachgekommen wird.
Als besonders effektiv hat sich inzwischen allerdings ein Bauzaun erwiesen, mit dem das Münster regelrecht abgeriegelt wird. Allerdings hat der Bauzaun auch seine Nachteile: Auf dem Münsterplatz finden ständig Veranstaltungen statt. Egal, ob Narrensprung, Kleinbrauermarkt, Schwörmontag, Musikfest, Weinfest oder Christkindlmarkt – im Jahreskalender reiht sich ein Termin an den anderen. Über 60 Tage im Jahr ist auf dem Münsterplatz etwas los. Die Bauzäune müssen deshalb relativ häufig auf- und abgebaut werden. Bei Großveranstaltungen sind sie jedoch immer noch die sicherste Lösung. Ob die anderen gebündelten Maßnahmen – mehr Toiletten und verstärkter Einsatz des Ordnungsamtes – helfen, muss sich 2017 zeigen.
Lösungsmodelle in anderen Städten
Wildpinkeln ist nicht nur in Ulm ein Problem. Man kennt es in allen Städten dieser Welt, und einige sind mit der Bekämpfung erfolgreicher als andere. In Hamburg wird auf
St. Pauli ein neu entwickelter Lack verwendet, der die Oberflächen der Wände mit einer Nano-Schicht überzieht und keine Flüssigkeit mehr eindringen lässt. Das Spray ist so effektiv, dass man in Hamburg den Slogan verwendet: „Wir pinkeln zurück“.
Der Urin spritzt von den behandelten Wänden nämlich ab – die Pinkler stehen mit nassen Hosen da. In Mainz und in Köln kommt der Lack inzwischen ebenfalls zum Einsatz. In Köln setzt man am Kölner Dom aber außerdem auf eine Kombination aus Schutzgitter, Bauzäunen, Überwachung und gratis Toiletten. Bauhistorische wichtige Fassadenteile und Tore werden am Kölner Dom inzwischen sogar ständig von Gittern geschützt. Übrigens: Wildpinkeln ist nicht nur eine Männersünde. Das zeigt die Statistik des Kölner Ordnungsamtes. Dort wurden 2015 in der Nacht zum 11.11. (Karnevalsbeginn) 186 Männer und immerhin 36 Frauen beim Wildpinkeln in der Domgegend ertappt.
Autorin: Ingrid Raagaard